Johannes Meinhardt
Die Eigennamen der Farbe
... Die zweite, damit unvereinbare Wahrnehmungsweise identifiziert nicht mehr bestimmte Farben und Beziehungen von Farben, sondern lässt sich auf die minimalen Differenzierungen der Farbfläche der Gemälde selbst ein. Eine sich vor den Augen eröffnende, aber nicht festhaltbare, nicht in Identitäten überführbare Fülle von Differenzen bietet sich dem Blick, wodurch die Identität einer Farbfläche zusammenbricht und einem offenen, sich entfaltenden und verändernden Feld von sensuellen Unterscheidungen Raum gibt. Eine solche differentielle Wahrnehmungsweise verknüpft sich mit einer spezifischen Lust der Unterscheidung, einer offenen, aktiven, situativen Unterscheidung.
Bei den Gemälden von Christiane Conrad handelt es sich, auch wenn der erste Blick vielleicht anderes behauptet, nicht um monochrome Malerei: es ist wesentlich für diese Gemälde, dass sie nicht einen eindeutigen, mit sich identischen Farbton zu sehen geben. Auch wenn sie in einem ganz engen Bereich von Farbdifferenzen, Materialdifferenzen und Oberflächendifferenzen gehalten sind, bestimmen diese Differenzierungen doch umso deutlicher den Charakter dieser Malerei und geben sich als das zu sehen, was wesentlich ist. Die Gemälde treten nur sekundär in farbliche Beziehungen zu anderen Farbtönen, und schon gar nicht zu einem System der Farben. Am ehesten treten sie noch in Beziehungen zu anderen Gemälden der Malerin, die deswegen auf die Auswahl und Hängung ihrer Gemälde in einer Ausstellung großen Wert legt. Die Aufmerksamkeit der Betrachter, eine weitgehend begriffslose, aber nicht sprachlose Aufmerksamkeit, wird von den komplexen, minimalen Differenzierungen in der Bildfläche aufgesogen; sie erfordert eine sensuelle Kontemplation, die sich nicht – oder kaum – in Farbbegriffe und Bedeutungen einfühlt oder einschwingt, sondern die sich in den Prozess der Wahrnehmung und in die Wahrnehmung dieses Prozesses, die Wahrnehmung der Wahrnehmung, vertieft.
Die Differenzierung der Bildfläche jenseits der Identität eines Farbtons ergibt sich aus der Verfahrensweise, ereignet sich jedoch in verschiedenen Registern. Was den Auftrag der Farbe betrifft: Christiane Conrad arbeitet grundsätzlich auf fast quadratischen, leicht überhöhten oder gelängten Leinwänden in unterschiedlichen Größen. Die Farbe legt sie in vielen Farbschichten übereinander, die zwar weitgehend denselben Farbton aufweisen, aber doch minimale Farbdifferenzen aufweisen. Die immer wieder neu angemischte Ölfarbe wird von ihr in weitgehend repetitiven, kurzen, sich kaum voneinander unterscheidenden vertikalen Spachtelbewegungen in immer neuen Schichten auf die Leinwand aufgetragen; so entsteht erstens ein kaum zu fassendes Schwanken der Farbe, das durch die Schichtung hervorgerufen wird, zweitens eine leichte Variation der Dicke der einzelnen Schichten und Einschreibungen, und drittens schließt sich die Oberfläche der Farbe unterschiedlich stark: teilweise, unter Druck, wird sie völlig glatt mit einer gewissen Neigung zur Reflexion, teilweise bleibt sie rauer, poröser und deswegen stumpf, das Licht schluckend.
Die Farbe wird in ziemlich kurzen vertikalen Spachtelzügen aufgetragen; dabei quillt an den Rändern der Spachtelbahn Farbe heraus und bildet Farbgrate, die eine nicht streng geordnete, aber serielle vertikale Struktur ergeben. Da viele Bahnen übereinanderliegen und die Grate auch immer wieder übermalt werden, ergeben diese Bahnen, deren Abstände unregelmäßig sind, nicht nur keine klare Flächenordnung, sondern sie werden durch die Übermalung auch immer wieder abgebrochen oder teilweise vermalt, ohne völlig zu verschwinden. Die Einsätze der Hand verlaufen nicht homogen, sondern setzen auf einer kurzen Strecke mit wenig Druck auf den Spachtel ein, erhöhen den Druck kontinuierlich und nehmen ihn wieder zurück, so dass die Farbgrate allmählich aus der Farbe heraustreten und wieder verschwinden. Sowohl an den An- und Absetzstellen des Spachtels als auch im Verlauf der Bahn oder des Zuges treten leichte horizontale Querlinien auf: dort, wo er an- und abgesetzt wurde, und noch weniger deutlich dort, wo die Hand mit dem Spachtel etwas gezittert oder ihren Druck nicht völlig gleichmäßig ausgeübt hat. Die so entstehenden Einschreibungsspuren der Hand sind weder Träger von Expression noch Träger von Bedeutung: sie koppeln sich nicht an ein expressives Innen an, das sich in der Bewegung der Hand artikuliert, noch bezeichnen sie Umrisse, Formen, piktogrammatische oder symbolische Zeichen oder andere Typen von Bedeutungsträgern.
Die starken vertikalen Farbgrate und die minimalen horizontalen Linien in der Farbmasse, die aus der Bewegung des Farbauftrags stammen, ergeben zusammen eine Art Gitterzeichnung, wobei die Zeichnung nur aus materiellen Kanten besteht, nicht aus gezeichneten Linien. Da diese materiellen Kanten ein Relief bilden, werden sie abhängig vom Lichteinfall und vom Blickpunkt unterschiedlich gesehen: die Reliefkante kann als solche wahrgenommen werden, als Grat, genauso aber kann dieser Grat dadurch, dass er, bei schrägem Lichteinfall, stark erhellt oder verdunkelt ist, durch Licht oder Schatten so stark gezeichnet sein, dass wir eine Licht- oder eine Schattenlinie wahrnehmen. Das ermöglicht ein negativ-positives Umschlagen: die Lichtzeichnung kann in eine Schattenzeichnung umschlagen, oder, noch radikaler, die Erhebung kann als Vertiefung sichtbar werden: dann erscheinen die Grate als Risse oder Brüche in der Farbfläche
Ganz generell treten also in der Wahrnehmung dieser Gemälde neben die Realität des Materials und der Faktur des Auftrags faktische Gegebenheiten der realen räumlichen Situation, wie Blickwinkel, Lichteinfallswinkel, Lichtintensität, Tönung des Lichts; denn nicht nur die vertikal-horizontale `Zeichnung´ der Gemälde verändert sich sichtbar unter sich verändernden Bedingungen der Situation, sondern auch der Farbton, die visuelle Tiefe der Oberfläche, die Reflexivität oder Opazität der Bildfläche, die Haptizität der Oberfläche. Die Gemälde zeigen also keine strenge Monochromie, sondern differenzieren die Monochromie auf drei Ebenen: erstens durch das `Gitter´ der Grate und Verlaufsrhythmen; zweitens durch leichte Schwankungen der Farbe, abhängig von Dichte und Schichtung; drittens durch unterschiedliche Reaktionen auf den Blickwinkel, den Lichteinfall und die Art des Lichts.
Die Gemälde von Christiane Conrad unterscheiden sich vor allem dadurch voneinander, dass die Künstlerin für jedes Gemälde eine eigene Farbnuance entwickelt. Die Entfaltung einer jeweils eigenen Farbe ist ein langwieriger Prozess: ausgehend von schon existierenden Gemälden schafft sie im Wechselspiel von Farbvorstellung und konkretem Prozess einen neuen Farbton, der mit dem Ausgangston verwandt ist, sich aber vollständig individualisiert. Das ist für sie der entscheidende Punkt: die Arbeit mit der Farbe ist erst vollendet, wenn die neue Farbnuance nicht mehr als Mischung von Farben oder als Ableitung von einer anderen Farbe wahrgenommen wird, sondern als selbständiger, eigenständiger Farbton.
Um dies zu erreichen, mischt die Malerin die Farbe praktisch immer mit Weiß oder auch mit zusätzlichen Grau- oder Schwarztönen ab, so dass sie an Intensität verliert und sich einer Nichtfarbe annähert: die Gratwanderung auf einer Position zwischen reiner Farbe und Nichtfarbe versucht, den Farbton sowohl daran zu hindern, genau analysierbar zu sein, als auch ihn daran zu hindern, in einer sich nicht mehr differenzierenden Mischung unterzugehen – die Bearbeitung der Farbe geschieht dabei vor allem durch die leichte Modifizierung der einzelnen Schichten, die abgetönt, aufgehellt oder verdunkelt bzw. vergraut werden. Der Betrachter wird durch dieses Spiel der Modifikationen und Abweichungen dazu gebracht, nach einer ersten Identifikation eines allgemeinen Farbtons zum einen das innere Schwanken oder Beben der Farbe wahrzunehmen, zum anderen aber die Erfahrung einer begriffslosen, kaum zu fassenden Individualisierung der Farbe zu machen. Christiane Conrad nützt naheliegenderweise auch die erste, identifizierende Reaktion der Wahrnehmung auf ihre Gemälde: viele von ihnen bieten verführerische Farbtöne an, die zuerst einfach genossen werden können; einem zweiten Blick aber werden sie zunehmend unfassbar und entziehen sich jeder farblichen Bestimmung.
Wie aber kann ein Farbton sich der Sprache entziehen, wo wir doch ganz selbstverständlich daran gewöhnt sind, Farbtöne vor allem in der Weise zu sehen, dass wir sie einem Farbbegriff subsumieren? Dass wir sie in ein sprachähnliches und in Sprache gefasstes System der Farbe einordnen? Die Farbbegriffe aber, mit denen unser System der Farben arbeitet, sind extrem allgemein und bilden ein sehr einfaches System von Gegensätzen: blau – gelb, rot – grün, schwarz – weiß. Innerhalb des Systems der Farbe sehen wir Farben auf dieselbe Weise, wie wir Gegenstände wahrnehmen: indem wir sie identifizieren und damit ihrem Begriff subsumieren. Von den wenigen zentralen Begriffen aus können wir dann Abweichungen und Mischungen formulieren, ohne aber dieses einfache System zu verlassen.
Der Versuch, den einzelnen Farbton individuell zu sehen, nicht ihn von vornherein auf das System der Farbnamen oder Begriffe bezogen festzulegen, ihn unabhängig von allen anderen Farben wahrzunehmen, ihm einen qualitativen Eigennamen zu geben und ihn nicht einem allgemeinen Begriff zu unterwerfen, wirft Probleme auf, die mit dem Problem des einzelnen, eigenständigen, individuellen Tons bei John Cage eng verwandt sind. Während nach traditionellem musikalischen Verständnis Töne nur in Relation zu anderen Tönen, in Klängen und Reihen, verstanden und identifiziert werden können, entwarf John Cage ein Hören, das den einzelnen Ton nicht mehr identifiziert und begreift, sondern in seiner sensuellen Wirklichkeit individuell erlebt und akustisch wahrnimmt. Ton besitzt bei ihm keinen systematischen Wert mehr, und dementsprechend auch keine intelligible Bedeutung, und selbst psychische Wirkung wird herausgehalten. Durch die `Unbestimmtheit bezüglich der Ausführung´ werden die Töne zu singulären Ereignissen, die sich nicht benennen und nicht erinnern lassen: statt der Erinnerung desselben Tons im Rahmen des Systems der Töne, statt der Wiederholung des Tons, entsteht das immer neue, unvorhersehbare und unbestimmte Ereignis einer Tons. „Jeder Ton ist ein eigenständiges Ereignis. Er ist mit keinem anderen Ton durch irgendeine Hierarchie verbunden. Er braucht keine Beziehung zu dem zu haben, was ihm vorausgegangen ist oder was ihm folgen wird. Er ist für sich selbst wichtig, nicht für das, was er zu einer musikalischen Linie oder einem musikalischen Verlauf beiträgt.“
Genau dasselbe gilt für Farben, wenn sie identifiziert werden, wenn das System der Farben mit seinen festgelegten Abständen ins Spiel kommt: sie werden durch die Beziehungen der Terme, hier der Farben, zueinander definiert und determiniert. Jedoch ist bei Farbtönen die grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Farbbegriffen, die ein System der Farben voraussetzen, und den Eigennamen der Farben, die sich als eingeständige Wahrnehmungsgegebenheiten individualisieren, nicht so gut zu fassen wie bei Tönen. Dennoch scheitert bei näherer Untersuchung jeder Versuch, einen Begriff der Farbe aus den verschiedenen und völlig unterschiedlichen gegenständlichen Realitäten zugehörigen Erscheinungsweisen von Farbe zu extrahieren und zu abstrahieren, an der irreduziblen Bindung der Wahrnehmung von Farbe an die Sichtbarkeit, an die visuelle Sensualität. Den Farbbegriffen entsprechende Farbnuancen existieren sensuell überhaupt nicht. Und jenseits des einfachen Systems der Grundfarben gibt es sowieso keine allgemeine Farbe, keinen Begriff von Farbe, sondern immer nur diese bestimmte Farbe, die ich gerade sehe, und die mich an eine andere bestimmte Farbe erinnert, die ich früher gesehen habe. Deswegen sind die Eigennamen von Farben fast immer Namen von Blumen oder Früchten, die genau diese Farbnuance zu sehen geben, die ich jetzt sehe: ich möchte nur an die relativ unkomplizierten Farbtöne Orange, Violett, Lila, Aubergine erinnern.
Denn Farben liegen zwar im Bereich des Optischen, dem hauptsächlichen Bereich der Identifikation, Bestimmung und Benennung von Gegenständen im weitesten Sinn, doch sind sie selbst keine identifizierbaren Gegenstände, sondern bloße Effekte, die in einer undurchdringlichen und unauflösbaren Koppelung an die sensuelle Wahrnehmung gebunden sind. In den begriffsfernen, leiblichen Bereichen sensueller Differenzierung können differenzierte Wahrnehmungen nur im Körper konkret und individuell erinnert, aber nicht begrifflich verallgemeinert werden; sie können Eigennamen erhalten, die an den konkreten sensuellen Vergleich gekoppelt sind, die sich in der Berührung und im materiellen Austausch zwischen Körper und Gegenstand eröffnen, aber sie erlauben aber keine begriffliche Identifizierung.
i : Barney Childs: Indeterminancy, in: John Vinton (Hg.): Dictionary of Contemporary Music, New York 1974, S. 336
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